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Gemeinschaftskunde unter der Lupe |
Hans-Dietrich Zeuschner, 05.07
Nach 50 Jahren:
Gemeinschaftskunde unter der Lupe
In den Rahmenplänen für Berufsschulen der alten Bundesländer rivalisieren die Fachbezeichnungen Gemeinschaftskunde, Sozialkunde, Sozialkundlich-politischer Unterricht und Politik miteinander. Bemerkenswert ist, dass sich die Lehrpläne für Gemeinschaftskunde im Wesentlichen weder in Hinblick auf die Inhalte noch auf die Ziele von denen für die übrigen Fächern unterscheiden.
Tabelle 1
Inhaltliche Schwerpunkte politischer Bildung nach den Rahmenplänen der Bundesländer Anm.: Diese Untersuchung von Sygusch, Frank und Henning, Bernd aus dem Jahre 1987 (15) kennzeichnet tendenziell, wie eine aktuelle Analyse einiger Rahmenrichtlinien ergab, ebenfalls die heutige Situation. |
Der Begriff Gemeinschaftskunde ist emotionsbefrachtet und ideologisch belastet.
Als Vorläufer des Faches Gemeinschaftskunde gilt das Fach Staatsbürgerkunde. Es ist ursprünglich als Unterrichtsfach lediglich für die Berufsschule konzipiert worden. Georg Kerschensteiner (1854-1932) vertrat in seiner Preisschrift “Staatsbürgerliche Erziehung der deutschen Jugend von 1901 den Standpunkt, dass das “Bildungsideal des brauchbaren Staatsbürgers“ vornehmlich über die Ausübung eines Berufes verwirklicht werden könne. In diesem Zusammenhang bemerkenswert sind die beiden nicht berufsbezogenen Merkmale des von ihm konzipierten staatsbürgerlichen Unterrichts: Er muss “sich freihalten von jeglicher Politik und von der Polemik gegen eine politische Partei, mag diese im Sinne unserer Staatsanschauung staatsfreundlich oder staatsfeindlich sein“, und zweitens: es müssen sich “wirkungsvolle Momente vaterländischer Geschichte oder charaktervolle sittliche Gestalten zwanglos in den Lehrgang mit einbeziehen lassen“. (1)
Art. 148 der Weimarer Reichsverfassung betont u. a. die Aufgabe der Gemeinschaftserziehung im Rahmen einer einheitlichen deutschen Volksgemeinschaft und empfiehlt die Beteiligung aller Schulfächer an der Staatsbürgerkunde. (vgl.2)
Hermann Giesecke skizziert das Geschehen in diesem ebenfalls während der NS-Zeit und in der DDR tradierten Fach mit der Beschreibung: “Der politische Unterricht beschränkt sich auf grundlegende Informationen über den Staat und seine wichtigsten Institutionen (3)
Eine einzigartige Verknüpfung von Staatsbürger- und Gemeinschaftskunde ist in einem 1965 erschienenen Lehrbuch zu finden, Titel: “Staatsbürger von morgen - Eine Gemeinschaftskunde für junge Menschen“. Im Vorwort schreibt Beckert, H.: "Es soll Ihnen zunächst einmal Kenntnisse vermitteln. Das ist die Aufgabe eines jeden Lehrbuches, und ein solches will auch diese erzählende `Einführung in die Gemeinschaftskunde´ sein." (4)
(Kommentar des Verf. Was immer auch damit gemeint ist!)
Gemeinschaftskunde - Kunde von der Gemeinschaft
In Meyers Lexikon von 1938 liest man u. a. “Das Wort drückt schon in seiner Stammsilbe (mein) seinen Inhalt aus: “gimneini“ (ahd., “die Gemeinen“ * gamainiz (urgermanisch), lat. communes) sind diejenigen, die sich innerhalb einer Mauer (lat. moenia) eines Schutzwalles ansiedeln und dadurch in einer verpflichtenden Gegenseitigkeit und Wechselwirkung stehen, aus der sich dann ein Rechts- und Pflichtsverhältnis des Einzelnen zum Ganzen und umgekehrt ergibt.“
Hierauf folgt eine Betrachtung des Begriffs im Wandel der Jahrhunderte und schließlich die NS-Auslegung:
“Die nat.-soz. Weltanschauung dagegen hat durch ihre prakt. G.sauffassung und -gestaltung dem urspr. Wesen der “G“ wieder zum Siege verholfen. Aus dem Erlebnis des Weltkrieges entstanden Idee und Gestalt der Front-G. als des Urbildes der geschlossenen G. (G. Lutz “Die Front-G.“, 1936), in der sich das Wesen der menschlichen Existenz als G.sdasein offenbarte. Auf dieser Grundlage weitete sich das G.serlebnis zur umfassenden Volks-G.. in ihr findet die Aufspaltung in volkstumslose, internat. Klassen ihr Ende, bes. auch durch die Pflege der gemeinsamen Erbmasse“ als des konstanten Faktors einer G.. Diese urspr. Gegebenheit der G. im Blut ist die Grundlage, auf der sich echte G. organisch aufbauen und entwickeln kann. Die Gesamt-G. findet ihre Ausformung in der Berufs- und Arbeits-G.. Das gleiche Gefühl des Teilhabens auch am Nationalvermögen durch die Arbeitsleistung schafft eine neue G.sethik. Das Erlebnis der gemeinsamen Geschichte, des gemeinsamen Schicksals auf gleichem Raum führt zur Opfer- und Schicksals-G., die ihre Sinnfülle im Opfer für die Kameradschaft findet.“ Später heißt es: “Die G. wurde bes. durch die Idee der “Klassen“ zerstört und in “Gesellschaft“ atomisiert. “Die Geisteswissenschaft “bleibt in der früheren Gesellschaftsauffassung stehen, ohne die G. als ontologisches Problem, als Urdasein zu sehen‘ (5).
20 Jahre später erklärt der Volksbrockhaus: “Gruppe von Menschen, die durch gemeinsames Denken, Fühlen, Wollen (Arbeits-G., Religions-G.) oder durch Schicksal (Not, Gefahr) verbunden sind‘ (6 ).
In letzten beiden Begriffsbestimmungen klingen die Erfahrungen der beiden Kriegs- und Nachkriegszeiten an. Im Kern basieren sie auf der klassischen Definition von F. Tönnies. Er stellt dem rational- und zweckbestimmten Begriff Gesellschaft die Bezeichnung Gemeinschaft gegenüber, “verstanden als eine innige Form der soz. Gruppe, die ähnl. dem Bund auf der seel.-geistigen Verbundenheit ihrer Mitgl. gründet (Liebes-G , Freundschaft), gleichzeitig als solche um ihrer selbst (Familie) und nicht um eines Zweckes Willen (Verein) sucht“ (7). An anderem Ort heißt es: „Die Beziehungen entstammen zugeschriebenen Gemeinsamkeiten der Mitgl. (z.B. Blutsverwandtschaft)………..Gemeinschaftliche Tendenzen haben Gruppen wie Familien, Clans, ... relig. Sekten“ (8).
Die Herkunft der Fachbezeichnung Gemeinschaftskunde ist ungeklärt. Es liegt nahe, dass der Terminus Gemeinschaftskunde - Kunde von der Gemeinschaft – als Fachbezeichnung für die Berufsschule, Anfang der 60er Jahren des letzten Jahrhunderts von einem seinerzeit wirkenden Politikdidaktiker oder von einer Richtlinienkommission geprägt worden ist.
Dass die “alternative“ Wortverbindung Gesellschaftslehre nicht bevorzugt worden ist, mag daran gelegen haben, dass Gesellschaft erst durch die (junge) Wissenschaft Politik (wieder) populär geworden ist (vgl.1). Historisch gesehen, meinte Gesellschaft ausschließlich die bürgerliche Gesellschaft, wobei sich die Zugehörigkeit auf Besitz und Bildung gründete, und damit das Prinzip der Gleichberechtigung nicht kannte. Seit einiger Zeit wird der Zusammenhang von Staat und Gesellschaft wieder enger gesehen, und zwar dadurch, dass man den Sozialstaat anerkennt, d.h. die Existenz von Gesellschaft nur durch die stabilisierende Aktivität staatlicher Institutionen wie u. a. staatliches Krisenmanagement und Sozial- und Wirtschaftspolitik. gesichert sieht (vgl.8).
Wenn dagegen die Fachbezeichnung Gemeinschaftskunde konstruiert und die vorstehende Begriffsbestimmung von F. Tönnies bewusst einbezogen worden ist, dann könnte dies am Ende der Nachkriegswirren, in der Zeit der REeducation geschehen sein, nach dem Motto: „Wir sitzen alle im gleichen Boot,“ in Verbindung mit dem Politikverständnis der fünfziger Jahre: “Unter Politik verstehen wir den Begriff der Kunst, die Führung menschlicher Gruppen zu ordnen und zu vollziehen“ (9).
Verkündigen oder Lehren?
„Kundtun“ bzw. „verkündigen“ ist fachdidaktisch quasi aus der Mode gekommen. Wenn dieser Begriff heute dennoch in einigen gesellschaftswissenschaftlichen Fachbezeichnungen verwendet wird, ist anzunehmen, dass Kunde als Fragment von Staatsbürgerkunde überlebt hat.
In den Stundentafeln für niedersächsische Berufsschulen (gewerblich-technischen Fachrichtungen) sind Wortverbindungen mit Kunde total gestrichen worden. Im Rahmen der Neuordnung der Metall- und Elektroberufe ist z.B. das Fach Fachkunde durch Technologie ersetzt worden. Die Fachbezeichnungen Gemeinschaftskunde und Wirtschaftskunde sind in den Stundentafeln nicht mehr zu finden. Eine Anzahl Inhalte ist heute unter der Fachbezeichnung Politik anzutreffen.
Gemeinschaftskunde als Klammerfach im Gymnasium
Die Fachbezeichnung Gemeinschaftskunde wird sowohl für ein Unterrichtsfach in der Berufsschule, als auch als Klammer für mehrere Fächer in anderen Schulformen verwendet.
Nach Wikipedia ist Gemeinschaftskunde „ein Anfang der 1960er Jahre an den allgemeinbildenden Schulen in Deutschland eingeführtes Schulfach, das die Gesellschaft der Bundesrepublik unter soziologischer, politikwissenschaftlicher, aber auch wirtschaftlicher und juristischer Perspektive beleuchtet und zur politischen Bildung der Schüler beitragen soll."
Die Stellungnahme des niedersächsischen Kultusministers, auf der Basis der KMK-Rahmenrichtlinien von 1960, aus dem Jahre 1974 sieht wesentlich anders aus:
Rolf Wemstedt spricht an einer Stelle sogar vom “fächerübergreifenden Lernfeld Gemeinschaftskunde“ (10). Nachdem 1960 die sog. Saarbrücker Rahmenvereinbarung die Zusammenlegung der Fächer Geschichte, Erdkunde und Sozialkunde zur Gemeinschaftskunde empfohlen hatte, folgten 1962 die Rahmenrichtlinien für Gemeinschaftskunde in den Klassen 12 und 13 der Gymnasien, herausgegeben von der KMK. Hierin ist m. E. auch die älteste Zielformulierung - in diesem Falle wie gesagt - für das Klammerfach Gemeinschaftskunde zu finden, sie lautet:
„In der Gemeinschaftskunde soll der junge Mensch in einem angemessenen Umfang lernen, unsere gegenwärtige Welt in ihrer historischen Verwurzelung. mit ihren sozialen, wirtschaftlichen und geographischen Bedingungen, ihren politischen Ordnungen und Tendenzen zu verstehen und kritisch zu beurteilen. Er soll die Aufgaben des Bürgers unserer Demokratie nicht nur erkennen, sondern auch fähig und bereit werden, sich im praktischen Gemeinschaftsleben der Schule und später in der gesellschaftlichen politischen und wirtschaftlichen Welt zu entscheiden und verantwortlich zu handeln.“ (10)
Gemeinschaftskunde, ein Fach ohne einheitlich definierte Ziele und Inhalte
Wie bereits erwähnt, ist das Fach Gemeinschaftskunde an berufsbildenden Schulen in Niedersachsen abgeschafft und durch Politik ersetzt worden. Ein Vergleich der Inhalte des Unterrichtsfaches Politik in Niedersachsen von 1994 mit denen des Unterrichtsfaches Gemeinschaftskunde in Baden-Württemberg von 2004 zeigt hinsichtlich der Inhalte eine signifikant große Anzahl von Übereinstimmungen bzw. Parallelen auf:
Niedersächsisches Kultusministerium: Rahmenrichtlinien für das Unterrichtsfach Politik in berufsbildenden Schulen, Stand: Juni 1994 (11):
Tabelle 2 a AUSZUG
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Baden-Württemberg Bildungsplan 2004 Bildungsstandards für Gemeinschaftskunde im Rahmen des Fächerverbundes Geographie – Wirtschaft – Gemeinschaftskunde (12):
Tabelle 2 b AUSZUG
II Kompetenzen und Inhalte KLASSE 8
KLASSE 10 Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland im Wandel
Kursstufe (2-stündig)
Kursstufe (4-stündig)
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Bezeichnungen von Schulfächern des gesellschaftswissenschaftlichen Bereichs
Tabelle 3
Schulfächerbezeichnungen im gesellschaftswissenschaftlichen Feld *) Gemeinschaftskunde als Klammerfach mit Sozialkunde, Geschichte und Erdkunde **) z. T. mit festen Anteilen Geschichte Quelle: Eigene Dateien/Gemeinschaftskunde – Wikipedia.htm |
Das Politische ist nicht alles, aber es ist in allem
In der Literatur ist eine allgemeingültige, aussagekräftige Beschreibung von Gemeinschaftskunde nicht zu finden. Nicht selten wird auf Sozialkunde verwiesen und umgekehrt. In einer Beschreibung von 1977 wird Staatsbürgerkunde (immer noch) als Synonym verwendet :
„Sozialkunde, Gemeinschaftskunde, Staatsbürgerkunde, Unterrichtsfach in allen Schultypen zur Vermittlung pol. Wissens u. zur Förderung soz. Verantwortung; wichtiger Teil der polit. Bildung.“ (13)
Gemeinschaftskunde und Politik sind nicht einmal Scheinalternativen. Das wird in einem Gleitwort von Alfred Grosser deutlich, das ich abschließend in zwei Auszügen zitiere:
“Geschichte, Soziologie, Psychologie, Rechtswissenschaft Philosophie, Ökonomie: Was bleibt da für ein Sonderfach der Wissenschaft, das das Politische als Objekt hat? Zunächst eben gerade das. Nämlich, dass keine der sechs imperialistischen Nachbarwissenschaften berechtigt ist, das beanspruchte Gebiet ganz zu annektieren. Wenn ständig sechs Scheinwerfer nötig sind, um eine gewisse Realität zu beleuchten, so bildet die Verbindung der Sechs eine besondere ja autonome Beleuchtungsstruktur wie jeder einzelne Scheinwerfer, der ja auch nie sein Licht völlig selbst schöpft.“
“Das Politische ist nicht alles, aber es ist in allem. Gestern wäre eine solche Feststellung provozierend gewesen; heute wird sie nur allzu leicht als wahr aufgenommen. Eben deshalb glaubt jeder, er sei berechtigt, über Zusammenhänge zu sprechen, als bräuchte er kein besonderes Wissen, als bräuchte man keine Politikwissenschaft. Genau das Gegenteil trifft zu. Es ist mindestens ebenso mühsam, es bedarf mindestens ebenso vieler Fachausbildung, um die empirischen Gegebenheiten und die etwaigen theoretischen Grundlagen oder konzeptionellen Gebäude des Politischen zu beherrschen, wie das (z.B., der Verf.) in der Soziologie oder in der Wirtschaftswissenschaft der Fall ist.“(14)
Hans-Dietrich Zeuschner
Literat
(1) Behrke,Rolf: Berufsschule in Hrsg.:Mickel,Wolfgang W., siehe (2) ‚ S.425
(2) Sperling, Walter: Geographie in Hrsg.: Mickel, Wolfgang W., Zitzlaff, Dietrich Handbuch der politischen Bildung, Bonn 1988, S.570
(6) Der Volksbrockhaus, Wiesbaden 1959
(8) Knaurs Lexikon, Stuttgart 1974
(9) Ulrich von Alemann: Politikbegriffe in Hrsg.: Mickel, W., siehe (2), S. 5.36
(11) Hrg. Nds Min Kult: Richtlinien für Berufsbildende Schulen RRL Politik BBS, Juni 1994, Hannover S.24
(12) Ohne Hrg. : Baden-Württemberg Bildungsplan 2004, Bildungsstandards für Gemeinschaftskunde, S.261 ff
(14) Noack, Paul: Was ist Politik?, München/Zürich 1973, S. 7
(15) Die Tabellen 1 und 2 a basieren auf dem vorgelegten Material von Sygusch, Frank Henning, Bernd : Inhaltliche Schwerpunkte politischer Bildung an Berufsschulen nach den Rahmenplänen der Bundesländer in Hrsg.: Bundeszentrale für politische Bildung: Politische Bildung an Berufsschulen, Bonn l987,S.363
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